26.06.2025 18:15
von Kommunikation

Lassalle verdient Zukunft

Wenn sich Abschied wie Aufbruch anfühlt

Genius Loci: Lassalle verdient Zukunft
Genius Loci: Lassalle verdient Zukunft

Mit dem „genius loci“ wurde in der Antike der Schutzgeist eines Ortes bezeichnet, doch beim „Genius Loci“-Wochenende im Lassalle-Haus Bad Schönbrunn wurde schnell klar: da mag es zwar einen unverkennbaren „Spirit“ geben, aber dieser speist sich aus vielen Dimensionen.

Noch einmal das Lassalle-Haus neu entdecken und mit anderen Augen sehen, hatte sich Direktor Toni Kurmann zur Schliessung des Hauses vorgenommen und Freunde, Fans und Neugierige zu einer Forschungsreise eingeladen.

Und anders als die klassischen Lassalle-Haus-Kurse begann das Wochenende nicht einfach mit dem Abendessen, sondern einem gemeinsamen Einzug: ein bewusstes Wahrnehmen, wie sehr sich das Haus jedem Besucher entzieht, der sich vom Parkplatz her nähert – Stationen entlang der einzelnen Wochen klassischer ignatianischer Exerzitien, wie Toni Kurmann nachvollziehbar erläuterte. Und da ahnt man schon: In diesem Haus ist nichts zufällig, da hat alles seinen Grund.

Eine Überraschung erwartete die Gäste schon im Blauen Speisesaal. Ein neues Bild beherrscht den Raum, als sei es für ihn geschaffen: mystisch leuchtend, eine spannungsgeladene geometrische Konstruktion der Künstlers Karl Schmid, der noch eine grössere Rolle spielen würde während des Wochenendes. Das grossformatige Werk hatte Kurmann im Keller entdeckt. „Wir sind hier möglicherweise nicht immer sehr gut darin, unsere Schätze auch wirklich zu würdigen“, meinte Kurmann vielsagend.

Beim abendlichen Spaziergang hinauf zur Bartholomäus-Kapelle berichtete Kurmann von der „Entdeckung“ des Ortes durch die Begründer der einstigen Bade-Heilanstalt. Er habe sich immer über die Form des Grundstücks gewundert, vor allem über einen seltsame und sozusagen unlogische Ausbuchtung, bis ihm klar wurde: die Gemarkung führt genau bis an einen Punkt, von dem aus der Zuger See sichtbar wird. Marketing anno 1856…

Kurmann zielte aber auf eine grössere Perspektive und zoomte aus dem, so wie es sich mit seinem hohen und dichten Baumbestand präsentiert: gelegen zwischen Kloster Kappel und Kloster Gubel, am Ort der blutigen Schlacht am Gubel, sei das Lassalle-Haus Bad Schönbrunn doch geradezu prädestiniert für Dialog und den unermüdlichen Einsatz für Frieden.

Und friedlich ist er, der abendliche Blick von der Terrasse der Jesuitengemeinschaft: Unter einem das Lassalle-Haus in seiner spannungsgeladenen Architektur, darüber schweift der Blick in die Zuger Voralpenlandschaft, und die Sonne versinkt in beinahe afrikanischen Dimensionen, blutrot, hinter dem Horizont.

Aus ganz unterschiedlichen Beweggründen sind die Teilnehmenden zum Wochenende gekommen. Manche haben eine jahrelange, innige Beziehung zum Haus und wollten bewusst Abschied nehmen – andere haben es erst kürzlich kennengelernt: „Ich habe einen Fernsehbeitrag gesehen und dachte mir, sowas gibt es bei uns?“, sagt Sabine und hat gleich ihren Mann zwangsverpflichtet sie zu begleiten, um ihm diesen Ort zu zeigen.

Als hätte es noch eines Beweises bedurft, zeigt sich einmal mehr: Das Lassalle-Haus führt ganz unterschiedliche Menschen zusammen, und es dauert nie besonders lange, bis sich Gesprächsfäden und erste Beziehungsnetze spinnen.

Es ist eine Einladung, den Tag sehr früh zu beginnen und den Sonnenaufgang an der Bartholomäuskapelle zu erwarten. Wenn das Lassalle-Haus Bad Schönbrunn ein klassischer „Sonnenuntergangs-Ort“ ist, dann ist das Erlebnis eines Sonnenaufgangs nicht weniger inspirierend: zu beobachten, wie sich das Land erhellt, die Rigi zu leuchten beginnt und schliesslich der Ausläufer des Zugerbergs ins Licht kriecht. Das alles begleitet von einer Klangkulisse aus hellwachen Vögeln, erwachendem Verkehrslärm und dem beständigen Hochspannungsknistern der monströsen Stromleitung.

Noch vor dem Frühstück führt Toni Kurmann bis auf den Friedhof der Jesuiten, der sich am anderen Ende des Grundstücks befindet. Die Grabsteine sind Metallskulpturen wie gefallene Blätter, das Friedhofskreuz ist kraftvoll eingewachsen, nur zu ahnen, aber das Schönste, sagt Kurmann: „Dieser Friedhof ist keine Sackgasse!“ Auch der schmale Pfad den Hügel hinauf ist auf den ersten Blick kaum zu erkennen, so strotz alles im sommerlichen Grün.

Das Grün ist einen zweiten und dritten Blick wert. Der Landschaftsarchitekt Johannes Stoffer führt durch die Parkanlage von Bad Schönbrunn und schärft den Blick für die planvoll inszenierte Natur, ausgehend vom Kurbetrieb, der im Stil der Zeit eine Umgebung für leichte Spaziergänge schaffen wollte, mit einer Kastanienallee, aber auch allerlei exotischen Pflanzen. Bis hin zur Anlage, so wie sie Josef A. Seleger dann sorgfältig für das heutige Lassalle-Haus schuf – und in die André Studer seine Architektur hineinkomponieren konnte.

Stoffer verwies auf die damals aufkommende Faszination für japanische Gartenarchitektur, die in Bad Schönbrunn deutliche Spuren hinterlassen hat, noch weit bevor die Anlage in Lassalle-Haus umbenannt und damit einen japanischen Bezug bekam.

Weg von diesem sozusagen kulturgeschichtlich geprägten Territorium führte der zweite Baum-Experte: Kari Müller ist Förster, Pate und guter Geist des Waldes, der zum Lassalle-Haus gehört: Aufs Engste verbunden mit „seinen“ Bäumen führt er leidenschaftlich durch den Wald, in dem keine einziger Baum gepflanzt sei. Er berichtet von der Kunst, immer wieder Licht zu schaffen, Bäume zu ernten, damit umstehende Bäume profitieren können und immer eine gesunde Mischung aus ortstypischen, ortsfremden und exotischen Pflanzen herrsche. Und nur das sei dann ein echter Wald – alles andere seien künstliche Monokulturen, ein Forst.

André Studers Architektur ist nichts, was sich auf den ersten Blick offenbart, beeindruckt oder gar mit Tricks Eindruck schindet. Ganz im Gegenteil. Sie ist geradezu enigmatisch verästelt, dabei aber beziehungs- und anspielungsreich in mannigfachen Details. Wer Kurmann kennt, der weiss, dass es da viel zu erzählen gibt… Umso erstaunlicher, dass es für „Genius Loci“ nur eine kurze Ein-Führung gibt: Ausgehend von Studers kleinster Einheit, dem Fussmass, um alles harmonisch aus anatomischen Beziehungen zu entwickeln und wieder auf die Menschen hin zu beziehen.

Kurmann staune immer wieder aufs Neue, wie perfekt sich das Zendo japanisch einrichten liess: weil auch die Reismatten dem geometrischen Grundmuster des Fussmasses gehorchen. Gerade aus dem Zendo heraus lässt sich Studers Strategie illustrieren, den Blick streng zu lenken. Ohnehin schon schmale Fenster, in Verbindung mit Säulenvorsprüngen verwehren Einblick, verwehren aber auch bewusst den Blick in die Weite. „Ist das ein Gefängnis?“, sei er schon gefragt worden, sagt Kurmann, aber die Intention sei doch eine andere: durch architektonische Scheuklappen die Voraussetzung für grösste Konzentration zu schaffen.

Ganz ähnlich in der Roten Kapelle. Hier gibt es zur Nordseite gar keine Fenster, nur die umlaufenden, von Ferdinand Gehr geschaffenen Oberlichter. Der eigentliche Lichteinfall geschieht durch das zentrale, quadratische Dachfenster in der Raummitte. Und es fällt auf den Steinboden mit deutlich erkennbaren Versteinerungen: Man steht auf dem festen Boden der Evolution und ist doch umgehen vom luzid beseelten Farbspiel die eine Geistkraft symbolisiert, den das Christentum an Pfingsten feiert.

Nur auf dem Grundrissplan erkennbar ist eine andere Finesse: die parabelförmige Anlage des Hauses hat ihren Scheitelpunkt genau im Tabernakel, nach katholischem Verständnis der sakramentale Ort göttlicher Gegenwart. Genau in diesem Punkt ändert sich die Richtung, kehrt sich alles um: ein schönes Bild!

„Karl Schmid – die Wiederentdeckung eines stillen Meisters“ war das Magazin DU im Frühjahr 2025 betitelt. Und das war auch die Wiederentdeckung der Kunst von Karl Schmid auf dem Gelände des Lassalle-Hauses: seine Metall-Skulpturen – am prominentesten die „Jericho-Trompete“ am Eingang, aber auch die grosse Brunnenskulptur in der Lebensbaum-Arena – prägen wie selbstverständlich Erscheinungsbil und Geist der Anlage, erfuhren aber schon lange keine gesonderte Wertschätzung mehr. Oliver Ike, Präsident der Karl Schmid-Gesellschaft, ist ausgezogen, das zu ändern. Und führt als Experte die Teilnehmenden am Wochenende in die Welt eines ruhe- und rastlosen Künstlers und Lehrers, der sich mit unterschiedlichsten Materialien und Techniken auseinandersetzt und dabei in vielen Fällen Lebensräume strukturiert, verlebendigt, vermenschlicht.

Dass diese Kunst der Vermenschlichung aus einem tief spirituellen Fundament erwächst, verdeutlichte der reformierte Pfarrer Richard Kölliker, der Schmid in Dübendorf noch persönlich kennengelernt hat: Er las in der Forrenmatt berührende Texte des Künstlers.

Damit war das Feld bestellt: Zwischen Natur und Naturgestaltung, zwischen Architekten-Kunst und planvoller Gemoetrie, der Kunst eines Karl Schmid und eines Ferdinand Gehr – als hätte diese einmalige Konstellation, angeführt vom visionären Initiator Josef Spierli SJ, nur darauf gewartet, dass die Figur eines Hugo Makibi Enomiya-Lassalle auftritt. Die Umbenennung geschah (aus heutiger Sicht: erstaunlicherweise) aber erst 1993 im Zug einer Neuausrichtung unter Niklaus Brantschen SJ.

Umso spannender, als der Jesuit, Filmemacher und Produzent Christof Wolf im Anschluss den Director’s Cut seines Lassalle-Kinofilms zeigte: Im Licht der aktuellen Situation des Lassalle-Haus, mit ungewissen Aussichten und unterschiedlichen Playern, bekommt der Film eine unerwartet neue Deutungsebene, denn sie porträtiert den geborenen Westfalen als Antiheld, als einen, der ein Leben lang kämpft, zweifelt und erst an unerwarteter Stelle Erfolg findet. Dieser Durchbruch kann erst nach einem Zusammenbruch geschehen. Der Film (www.lassalle-themovie.com) klingt gerade jetzt, an einem dramatischen Wendepunkt des Lassalle-Hauses, noch einmal neu, ist tief bewegend und eine absolute Empfehlung.

Nach einem derart dichten Tag mit so vielen Impulsen wurde es Zeit, wieder die Weite des Himmels zu spüren: Gemeinsamer Austausch unter freiem Himmel, ein Sonnenuntergang zur Sonnwende wie im Bilderbuch, und schliesslich ein Sonnwendfeuer bis zur Mitternacht: Nach vielen Worten und Erklärungen brauchte es nicht mehr viele Worte, um die verschiedensten Eindrücke zu teilen. Manchmal gehört auch planvolle Überforderung dazu, Erfahrungen zu machen, die man nicht mehr vergisst…

Kleiner die Runde am nächsten Morgen, die sich wieder aufmacht, den Tag mit dem Sonnenaufgang zu beginnen. Dafür dann ein Gottesdienst in der Roten Kapelle, Toni Kurmann zelebriert und widmet ihn den zentralen Merkmalen einer Geist-Erfülltheit: Staunen und Dankbarkeit.

Zur Predigt gibt er das Wort an Elisabeth Feiler. Die Kuratorin für Kunst- und Kulturgüter der Kath. Kirchgemeinde Zug erklärt die Arbeiten von Ferdinand Gehr in der Roten Kapelle. Neben den Glasfenstern ist das, wenn auch nicht ursprünglich dafür geschaffen, auch das Bild der Menschwerdung. Feiler zeichnet das Bild eines durchaus selbstbewussten Künstlers, der gestärkt aus dem „Oberwiler Bilderstreit“ um seine damals kontroversen Wandbilder in der Bruder Klaus Kirche herausging. Seine Entwicklung zu einer zunehmende abstrakten Form- und Farbsprache manifestiert sich auch in den beiden Kapellen des Lassalle-Hauses, die ihrem Charakter entsprechend Licht unterschiedlich einsetzen.

Im Sinn einer lebendigen Sonntagskultur lud Toni Kurmann alle Anwesenden nicht nur zu Kadi und Gipfeli sondern auch zu gleich mehreren parallelen Angeboten: Der Karl-Schmid-Experte Ike unternahm mit Interessierten einen Kunst-Spaziergang über das Gelände, Elisabeth Feiler führte ihre Gedanken zu Ferdinand Gehr weiter aus und würdigte schlussendlich auch noch den grossen, ebenfalls von Gehr entworfenenen Wandteppich im Treppenhaus vor der Sakristei: Auch hier wieder Kunstwerke, die – weil nicht angeschrieben – beinahe zu selbstverständlich den Geist des Hauses prägen.

Genauso wie die von Andre Studer und seiner Frau designten Liegestühle: archaisch in ihrer Anmutung und Materialität, himmlisch bequem, wenn man sie zu benutzen weiss. Es sind lauter Einladungen zum Perspektivenwechsel, zum anderen Blick: der grosse Wandteppich lädt ein, denBlick nach oben wandern zu lassen. Und aus den Liegestühlen sieht die Welt automatisch ganz anders aus.

Damit nicht genug: Ausgestellt waren Bilder von Jrma Bamert, der nun hundertjährigen Künstlerin, die mit dem Lassalle-Haus eng verbunden ist. Und gezeigt wurde das Video einer Performance der Kalligraphie-Meisterin Sanae Hashimoto, auch ihre Kunst ist im Lassalle-Haus sehr präsent.

Was bleibt nach einer solch intensiven Entdeckungsreise? Überraschung und Dankbarkeit, Staunen: noch so viel Neues erfahren zu haben, obwohl man schon so oft und lang im Lassalle-Haus gewesen sei. Und Zuversicht. Sie sei, sagt eine Teilnehmerin, gekommen, um in Traurigkeit Abschied zu nehmen von dem Haus, das ihr so viel bedeute. Jetzt verspüre sie etwas anderes: Hoffnung.

Es muss wohl am Genius Loci liegen.

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